In der Corona-Pandemie wird vielen Menschen besonders bewusst, wie sehr das Internet und digitale Technologie das Leben erleichtern. Grundlage für die Vernetzung sind Kommunikationssysteme. Prof. Dr.-Ing. Hans Dieter Schotten vom Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) erklärt, wie wir dieses zentrale Nervensystem unserer digitalen Gesellschaft fit für die Zukunft machen.
Herr Professor Schotten, wir verlagern aktuell viele Tätigkeiten in die digitale Welt. Vor welche besonderen Herausforderungen stellt die gegenwärtige Ausnahmesituation unsere Kommunikationsnetze?
Tatsächlich hat die Verlagerung von beruflichen, schulischen und Ausbildungstätigkeiten in die Privatwohnungen zu einem Anstieg in den Datenvolumina geführt: Es wird mehr telefoniert, Streamingdienste und Internetspiele erleben einen Boom. Die Netzwerkbetreiber haben hierauf schnell und flexibel reagiert. Bisher kommen die Netze mit den gestiegenen Anforderungen bis auf lokale Ausnahmen gut zurecht. Eine Herausforderung bleibt es dennoch: Homeoffice, Homeschooling, E-Learning, Yoga- und Musikunterricht per Videoschalte und neue digitale Formen der sozialen Interaktion in der Familie wie ein virtuelles Treffen mit den Großeltern funktionieren nur, wenn ein stabiler Internetzugang verfügbar ist. Und das ist aktuell nicht überall gegeben.
Mit dem jetzt zu erwartenden Digitalisierungsboom müssen wir das Thema der Verfügbarkeit eines wirtschaftlich und technisch sinnvollen Internetzugangs neu priorisieren. Hierfür ist Netzausbau – Glasfaser und Mobilfunk − eine Voraussetzung. Um zukunftssichere und nachhaltige Kommunikationsnetze für die unterschiedlichsten Diensteanforderungen zu bekommen, brauchen wir aber auch neue Netzkonzepte und somit mehr Forschung auf diesem Gebiet. Denn nach der Krise werden wir mehr Arbeitsplätze im Homeoffice haben, mehr Telemedizin, mehr Behördendienstleistungen im Internet, mehr Schulungs- und Unterrichtsangebote und viele weitere Anwendungen, die uns plötzlich selbstverständlich erscheinen.
Was lehrt uns die Ausnahmesituation außerdem?
Das Thema Technologische Souveränität rückt aktuell noch stärker in den Fokus: Vertrauenswürdige Netztechnologie muss innerhalb Deutschlands und Europas für Bürger jederzeit nutzbar und entsprechend den Vorgaben der Politik und Bedarfen der Industrie verfügbar und ausbaubar sein.
Wie gut ist Deutschland denn in punkto leistungsfähige Kommunikationsnetze aufgestellt?
Die deutschen Netze sind gut und wichtige Innovationen wie 5G für die Industrie oder Campusnetze werden immer wieder aus Deutschland vorangetrieben. Deutschland ist aber auch besonders gefordert, da wichtige deutsche Schlüsselindustrien – Automobilindustrie und Automatisierung – eine massive Digitalisierungs- und Vernetzungswelle erleben. Wir brauchen die besten Netze hier vor der Haustüre, um Produkte für die Weltmärkte entwickeln zu können. Gerade in den asiatischen Märkten ist die Technikaffinität hoch und wird die Verfügbarkeit der neusten Mobilfunkgeneration als Staatsziel gesehen. Das fordert uns heraus, denn wir sollten aus Deutschland heraus verstehen können, was wir in diesen Regionen der Welt verkaufen wollen.
Wo gilt es nun anzupacken?
Mit der Digitalisierung wichtiger Lebensbereiche steigen die qualitativen Anforderungen an unsere Netze – Sicherheit, Verfügbarkeit, Latenz und garantierte Bandbreite sind Schlüsselparameter, wenn kritische Dienste vernetzt werden. Wichtig ist dabei aber, dass allen Bürgern und Unternehmen diese Netzqualität zur Verfügung steht. Bei uns gibt es „Hidden Champions“ und neue innovative Unternehmen nicht nur in den großen Städten, sondern eben oft auch auf dem Land. Wir brauchen deshalb flächendeckend ein Netz der Weltklasse. Das kosteneffizient hinzubekommen, benötigt Innovationen und Forschung.
Worauf kommt es sonst noch an?
Das Internet der Dinge, das schrittweise immer mehr an Bedeutung gewinnt, stellt je nach Anwendung sehr unterschiedliche und zeitlich veränderliche Anforderungen an die Netze. Diese müssen sich darauf dynamisch einstellen. Unter Beachtung der Regulierung zur Netzneutralität gibt es hierbei verschiedene Möglichkeiten. Durch Virtualisierung, Netzwerk Slicing, Edge Computing, die Integration von Rechenleistung in Netzknoten und vor allem der konsequenten Nutzung Künstlicher Intelligenz (KI) können wir unsere Netze „intelligenter“ und „flexibler“ machen. Das heißt, dass wir ihnen durch KI die Möglichkeit geben, einfacher und schneller Lastschwankungen und Nutzungsmuster zu erkennen, sich diesen anzupassen und sich sogar prädiktiv auf zu erwartende Lastspitzen „vorzubereiten“.
Sie leiten am DFKI den Forschungsbereich „Intelligente Netze“. Weshalb brauchen wir diese Intelligenz im Netz?
„Intelligenz“ kann sich auf unterschiedliche Eigenschaften beziehen: Intelligente Netze, die besonders effizient, kostengünstig und ressourcenschonend sind, sind naturgemäß überall interessant. „Intelligente Netze“ im Sinne von besonders resilient, sicher und robust sind für sicherheitskritische Infrastrukturen und die Industrie entscheidend. „Intelligent“ im Sinne von einfacher Bedienbarkeit und automatisierter Konfiguration ist für Verbraucher und kleinere Betriebe ohne große IT-Abteilungen wichtig. Das BMBF hat vor kurzem den Forschungsschwerpunkt „KI in Kommunikationsnetzen“ gestartet. Hier werden viele der aktuellen Herausforderungen adressiert – etwa die Nutzung von KI-Technologie beim vernetzten Fahren oder in Industrie-4.0-Szenarien.
Können Sie ein konkretes Beispiel für den Nutzen von KI in Kommunikationsnetzen nennen?
Im Straßenverkehr gibt es immer wieder Datenspitzenlasten – bei Staus, Unfällen oder einfach im Berufsverkehr. Diese Situationen können von KI effizient erkannt werden, sodass automatisiert entsprechende Anpassungen in den Netzen vorgenommen werden können. Mit der Zeit wird die KI sogar lernen, in einigen Fällen vorherzusagen, wann solche Lastspitzen auftreten und prädiktiv die Netze vorbereiten. Und wenn man diese KI-Kapazitäten ohnehin zur Verfügung hat, können diese natürlich auch zur Erkennung oder gar zur Steuerung von Verkehrsflüssen beitragen. Dies hilft dann auch, Emissionen signifikant zu reduzieren und Energie zu sparen.
Was sind die aktuellen Herausforderungen für die Forschung?
Herausfordernd ist vor allem die Komplexität der Systeme, die im Gegensatz zu vielen anderen KI-Anwendungsbereichen große – sogar globale – Netze umfassen, hoch dynamisch sind und in „Echtzeit“ agieren müssen. Weitere Herausforderungen sind die Verfügbarkeit von Trainingsdaten – gerade in kleineren Campusnetzen – und die vielen Schnittstellen, die eine Informationsweitergabe nur begrenzt ermöglichen. Darüber hinaus ist es notwendig, unterschiedlichste Expertisen in Bezug auf Anwendung, KI, Software und Netzwerktechnik zusammenzuführen. Hinzu kommt, dass alle KI-Funktionalitäten auch noch gegen Angriffe abgesichert werden müssen.
Für vernetztes Fahren benötigen wir aber auch moderne Kommunikationstechnologie wie 5G − oder gar 6G in weiterer Zukunft. Was kann man auf technischer Seite tun, um für die Zukunft gerüstet zu sein?
Das vernetzte Fahren braucht vor allem sehr sichere, überall verfügbare und performante Konnektivität in den öffentlichen 5G-Netzen. Netzwerk Slicing – also die Ausbildung eines virtuellen Netzes im Netz, speziell optimiert für Fahrzeuge – kann hier eine Lösung sein. Edge Computing – also die Nutzung von Rechenkapazitäten, die nahe am Fahrzeug, zum Beispiel schon in der Basisstation angesiedelt ist – kann helfen, Latenzen zu reduzieren. Die Ausführung von Diensten in diesen „Edge“-Rechnern macht uns auch von Ausfällen des Backbones unabhängiger, hilft also, kritische Dienste sicherer zu machen. Der Ausführungsort für kritische Dienste kann Fahrzeugen oder Fahrzeuggruppen sogar im Netz folgen, also quasi von Basisstation zu Basisstation springen. Hierdurch werden auch bei Bewegung immer eine niedrige Latenz und eine hohe Verfügbarkeit sichergestellt. Alle diese Konzepte gibt es heute bereits, sie müssen aber in Bezug auf universelle Nutzbarkeit, Sicherheit und Integration neuer 5G-Features weiterentwickelt werden.
Und inwiefern unterscheiden sich die Anforderungen im Vergleich dazu in der Industrie 4.0?
Industrie-4.0-Szenarien sind in der Regel lokal. In der Produktion treffen auf engstem Raum viele und sehr unterschiedliche Anwendungen zusammen. Oft werden 5G-Campusnetze eingesetzt, um diese zu unterstützen. Dies gilt etwa für das vernetzte Fahren – hier für die Intralogistik –, modernste Mensch-Maschine-Schnittstellen oder kooperierende Roboter, die unabhängig voneinander agierend auf Millimeter genau zusammenarbeiten müssen. Alles dies sind Beispiele für Anwendungen, die unterschiedliche, aber jeweils extreme Anforderungen an die Vernetzung stellen. Niedrige Latenzen – also Datenübertragung nahezu in Echtzeit –, hohe Verfügbarkeit und Sicherheit, deterministischer Verkehr, skalierbare Bandbreiten und das in Kombination mit einfacher Bedienbarkeit und hoher Kosteneffizienz − so lauten die entsprechenden technischen Herausforderungen.
Und was kann KI hier genau leisten?
Auch in diesem Szenario ist es wieder die KI, von der man sich erhebliche Hilfe bei der Lösung dieser Probleme verspricht. Sie kann auch hier zusätzliche Wertschöpfung generieren: Mit ihrer Hilfe lassen sich typische Situationen erkennen und die Netze entsprechend optimieren, Angriffe und Defekte im Netz automatisch entdecken und Gegenmaßnahmen einleiten. Ebenso lassen sich gewonnene Informationen auch für andere Dienste wie prädiktive Wartung oder Logistik nutzen.
Und welche Chancen bieten sich durch 5G für Privatanwenderinnen und -anwender?
Augmented Reality wäre ein Anwendungsbeispiel für Privatnutzerinnen und –nutzer. Für solche Anwendungen, bei denen die reale Welt mit Elementen der virtuellen Welt verschmilzt, werden hohe Datenraten und niedrige Latenzen benötigt werden, wie sie nur 5G bietet. Auch werden in der Coronakrise aktuell einige Bedenken zerstreut, die bisher bestimmte Anwendungen blockiert haben. Ein Beispiel ist die Telemedizin. Wir werden merken, wie wichtig 5G künftig sein wird.
Wenn Sie über 5G hinausblicken: Wie sehen für Sie die Kommunikationsnetze der Zukunft aus
Tatsächlich laufen in allen Regionen der Welt und auch in Europa Diskussionen darüber, was 6G eines Tages – erwartet wird etwa 2030 – sein könnte. Noch höhere Datenraten, millimetergenaue Lokalisierung, höhere Zuverlässigkeit und noch mehr Intelligenz im Netz – viele dieser Ideen sind Weiterentwicklungen schon existierender Konzepte. Ich vermute, dies wird kommen und teilweise schon bei der 5G-Evolution passieren. Anwendungen, die 5G nicht unterstützen kann, sehe ich zurzeit noch nicht wirklich. Für mich ist die nächste Generation daher auch eher durch höhere Netzresilienz und transparenten Datenschutz geprägt. Faszinierend und zugleich realistisch finde ich außerdem die Möglichkeit, meinen eigenen absolut vertraulichen Avatar im Netz zu haben, der neue Formen der Interaktion mit meiner Umgebung ermöglicht. Autonome Maschinen und souveräne Menschen begegnen sich und arbeiten zusammen, sicher und unter Kontrolle der Menschen – so etwa könnte ein 6G aussehen.
Wir danken Ihnen für das Gespräch.