Am heutigen Safer Internet Day ruft die Europäische Kommission unter dem Motto „Together for a better internet“ zu Veranstaltungen und Aktionen rund um das Thema Internetsicherheit auf. Der Tag richtet sich besonders an Kinder und Jugendliche.
Im Gespräch mit Prof. Dr. Regina Ammicht Quinn geht es um die besonderen Herausforderungen, denen sich Heranwachsende in einer digitalen Welt täglich aufs Neue stellen müssen. Die Ethikprofessorin war eine der Hauptorganisatorinnen der Konferenz „Aufwachsen in überwachten Umgebungen – Wie lässt sich Datenschutz in Schule und Kinderzimmer umsetzen?“ des BMBF-geförderten, interdisziplinären Forschungsverbunds Forum Privatheit im November 2019.
Heute ist der Safer Internet Day. Weshalb ist es wichtig, dass junge Menschen für Internetsicherheit sensibilisiert werden?
Ein Drittel derer, die weltweit das Internet nutzen, sind Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. In Deutschland sind 98 Prozent der Kinder zwischen 9 und 13 Jahren im Internet unterwegs – also fast alle. Sie recherchieren, schauen YouTube-Videos, verabreden sich über soziale Medien oder spielen vernetzte Computerspiele. Und manche kennen sich damit besser aus als ihre Eltern. Das Internet ist für sie eine Lebenswelt, die nicht mehr streng zwischen „analog“ und „digital“ unterscheidet, sondern beides vermischt.
Und was genau kann jungen Menschen daran Probleme bereiten?
Die Inhalte können verstörend sein – Kinder können beispielsweise mit Gewalt, Extremismus oder Pornografie konfrontiert werden, ehe sie in der Lage sind, damit umzugehen. Die Datenpreisgabe kann problematisch sein – etwa dann, wenn die Anbieter von Diensten oder Plattformen Profile von Kindern erstellen, die für Werbung genutzt werden, nach Jahren noch einsehbar sind oder das Auffinden der Kinder durch Fremde leichtmachen. Die hohe Bedeutung der Rolle von Eltern und von Bildungseinrichtungen zeigt sich hier. Häufig ist ihnen nicht bewusst, dass auch und gerade Kinder eine zu schützende Privatsphäre haben.
Sie haben Kindheitsbilder im historischen Wandel untersucht. Inwiefern verändert sich das Aufwachsen durch digitale Technologien?
Wir Älteren fragen uns manchmal, warum es für unsere Eltern als Sicherheitsmaßnahme normal war, einfach nur zu sagen, man solle nach Hause kommen, wenn es dunkel wird. Heute besteht ein sehr viel größeres Schutz- und Kontrollbedürfnis. Das liegt auch daran, dass es andere Möglichkeiten zu Schutz und Kontrolle gibt. Das Smartphone spielt hier eine große Rolle.
Was verändert sich dadurch genau?
Seit etwa 200 Jahren – historisch gesehen also „neu“ – verstehen wir Kindheit als eigene Lebensphase mit eigens geschützten Kinder-Räumen, Kinder-Kleidung und Kinder-Spielen. Digitalisierung bedeutet aber, dass diese eigenen Schutzräume für Kinder immer schwerer aufrecht zu erhalten sind. Denn digitale Technologien bieten große Potenziale für Kinder und Jugendliche. Sie können sich schnell, mobil, global vernetzen; Wissen ist für sie zugänglich; Unterhaltung und Spielen sind ebenso wichtig. Kinder können also in ihren Kinderzimmern mit der Welt vernetzt sein – mit großen Vorteilen und Chancen, aber auch mit erheblichen Risiken.
Welche Risiken meinen Sie?
Kindheit ist ein verletzbares Lebensalter. Hier geht es darum, in vielen Schritten ein freies, selbstbestimmtes und beziehungsfähiges Leben zu erlernen. Digitalisierung bedeutet, dass Kinder und Jugendliche in dieser Welt kompetent werden müssen. Zum einen müssen sie mit anderen mithalten, möglichst dieselben Dienste und Spiele benutzen und denselben Normen der Erreichbarkeit, der Interessen und des propagierten Aussehens genügen. Zugleich stehen sie vor der Aufgabe, eine Persönlichkeit zu entwickeln. Das heißt auch: eine gute und kritische Haltung Medien und digitalen Diensten gegenüber zu finden. Wenn jemand aber nicht WhatsApp nutzt, kann es auch sein, dass wichtige private oder schulische Informationen nicht zugänglich sind. Und wenn die Freundinnen und Freunde online sind: Wann steige ich aus? Und wie kann ich lernen, überhaupt wahrzunehmen, wann ich das brauche?
Was bedeutet das für Eltern?
Nicht nur Kinder, sondern auch Eltern stehen vor neuen Herausforderungen: Sollen ihre Kinder „intelligente“ Spielsachen haben, deren digitale Anteile versteckt sind? Das sind beispielsweise Kuscheltiere, in denen ein Lerncomputer steckt, der sich mit dem Kind unterhalten und mit ihm rechnen üben kann, aber auch eine Kamera und Bilderkennungssoftware enthält. Eltern können sich über WLAN mit der Software verbinden und den Gesprächen zuhören. Eine „intelligente“ Barbie wiederum zeichnet die Gespräche auf, welche die „Puppe“ mit dem Kind führt, oder das Kind mit sich selbst, oder mit anderen Kindern und schickt die Aufzeichnungen den Eltern zu. Herstellerfirmen sammeln in der Regel die Daten und speichern sie. Was dann mit ihnen passiert, ist oft nicht klar.
Inwiefern verändert sich dadurch das Verhältnis von Eltern zu ihren Kindern?
Eltern wollen ihre Kinder schützen. Und schon immer war ein solcher Schutz mit Kontrolle verbunden. In Kuscheltieren versteckte Überwachungskameras sind neu und zeigen, dass sich ein neues Misstrauensverhältnis zwischen Eltern und Kindern herausbilden könnte. Es gibt kein allgemeines Rezept dafür, wann, wie und in welchen Mengen und Mischungen, Schutz, Fürsorge und Kontrolle in einer digitalisierten Kindheit sinnvoll sind. Das Ziel aber kann nicht sein, möglichst perfekte Kontrolle über Kinder und Jugendliche auszuüben. Das Ziel ist ein Vertrauensverhältnis, das dabei hilft, Selbstverantwortung zu lernen und vernünftig mit Risiken umzugehen.
Welche Entwicklungen sind aus Ihrer Sicht besonders problematisch?
Technologische Entwicklungen sind immer ambivalent. Zu Chancen wie verbesserten Lernmethoden kommen auch Risiken: Die Kommerzialisierung der Kindheit bekommt durch die Digitalisierung eine neue und umfassendere Form. Ein Beispiel: Der höchstbezahlte YouTuber des Jahres 2018 hieß Ryan. Er war fünf Jahre alt und stellte in Ryan’s Toy Review jeden Tag ein neues Spielzeug vor. Seither wurde sein Unternehmen deutlich erweitert und eine US-amerikanische Warenhandelskette vertreibt seine eigene Spielzeugmarke.
Was beunruhigt Sie darüber hinaus?
Es gibt einen relativ einfachen Zugang zu gewalthaltigen oder pornografischen Inhalten, aber auch zu Verschwörungstheorien und Falschmeldungen. Es gibt Online-Schönheitswettbewerbe für Kinder, eine wachsende Sparte von „Beauty Videos“, genauso aber öffentliche Beschämungsvorgänge mit peinlichen Bildern. Die Frage des Datenschutzes ist dabei für Kinder und Jugendliche zentral. Datenschutz und Privatheit sind kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit für eine gelingende Kindheitsentwicklung und eine funktionierende Demokratie.
Im November 2019 hat das Forum Privatheit eine Konferenz zum Thema „Aufwachsen in überwachten Umgebungen organisiert. Was kann Forschung leisten, um die Situation im Netz zu verbessern?
Forschung, wie sie im Forum Privatheit betrieben wird, sieht sich in der Verantwortung, auf problematische Entwicklungen in der digitalisierten Welt aufmerksam zu machen. Damit gibt es keinen „Elfenbeinturm“ der Wissenschaft, sondern die kritische Reflexion aktueller Entwicklungen und die sorgfältige Erhebung empirischer Evidenzen. Auf der Tagung wurde beispielsweise ein „Recht auf Vergessenwerden im Netz“ für Kinder und Jugendliche gefordert, damit sie mit dem Erreichen des 18. Lebensjahrs einfach ihre Datenspuren löschen können. Gefordert wurden auch klare Zielvorgaben für das Bildungssystem, für die Nutzung von individualisierten Lernprogrammen, für Anwesenheitskontrollen durch Überwachung und für internetbasierte Kommunikation in Schulen.
Was braucht es aus Ihrer Sicht?
Privatheit ist keine Privatsache. Dort, wo es oftmals nicht klar ist, wo, in welchen Bereichen, durch wen und für welche Zwecke Privatheit eingeschränkt wird, braucht es nicht nur die Kompetenzen von Eltern, Lehrerinnen und Lehrern und von Erzieherinnen und Erziehern sowie die einzuübenden Kompetenzen der Kinder und Jugendlichen, sondern genauso klare Regulierungen digitaler Systeme.
Wie sieht eine gute Kindheit in Zeiten des digitalen Wandels aus?
Eine gute Kindheit war und ist immer eine Kindheit ohne Krieg, Flucht und Vertreibung, eine Kindheit, in der Bedürfnisse gestillt werden, Freiheiten eingeübt werden und Fehler ohne Verlust an Liebe und Zuneigung gemacht werden dürfen. Eine gute digitalisierte Kindheit ist all das – und zusätzlich eine Kindheit, in der auch Kindern eine Privatsphäre und Geheimnisse zugestanden werden; in der nicht Datenprofile von Kindern gebildet werden, aus denen eine Zukunft errechnet wird; in der individualisierte Lernprogramme helfen und nicht benachteiligen; in der Kinder Schritt für Schritt eine selbstbestimmte Nutzung digitaler Techniken lernen. Und es ist eine Kindheit, in der Raum ist für das, was Computer und Smartphone nicht bieten können: toben, riechen, fühlen, außer Atem geraten, in Pfützen treten und im Dunkeln einen Weg finden.